Rezension: Millennium Actress (4K/Blu-ray)

Das Interview mit der legendären Schauspielerin Chiyoko, führt Genya und Kyoji in Millennium Actress in eine bewegte Vergangenheit.

Als das legendäre Filmstudio Ginei zur Jahrtausendwende seine alten Kulissen abreißen lässt, beschließt Genya Tachibana eine Dokumentation über Chiyoko Fujiwara zu drehen. Einst war sie der Star von Ginei und hat zahlreiche Filme geprägt. Doch vor langer Zeit hat sie sich plötzlich zurückgezogen und seitdem kein Studio mehr betreten. Gemeinsam mit seinem Kameramann Kyoji Ida, begibt sich Genya zu Chiyoko, um die mittlerweile über siebzig Jahre alte Schauspielerin zu interviewen. Als Geschenk überreicht Genya ihr einen alten Schlüssel, der einst eine große Bedeutung für sie hatte und Erinnerungen an vergangene Zeiten weckt. Chiyokos Erzählungen lassen Vergangenheit und Gegenwart lebhaft miteinander verschmelzen und schon bald sind Genya und Kyoji mitgerissen und tauchen ein in die Welt der ehemaligen Schauspielerin.

Filmische Vergangenheit

Satoshi Kons zweiter Anime-Film Millennium Actress aus dem Jahr 2001 thematisiert den Wandel der japanischen Film- und Animekultur zur Jahrtausendwende, blickt zurück auf alte Zeiten, vorherige Jahrzehnte und Errungenschaften. Zugleich befasst sich der Film mit dem Vergessen, dem Entschwinden von Erinnerungen und dem Umgang mit dem Erbe, das neue Filmschaffende antreten. In Person von Genya wird die Ehrung und Liebe für das alte Kino repräsentiert, während sein Kameramann Kyoji die Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit zeigt. Damit erfüllen sie unterschiedliche und gleichermaßen wichtige Rollen, die einen jeweils anderen Blick auf das Leben und die Filme von Chiyoko gewährt Einhundert Jahre des japanischen Kinos werden durch das Schaffen der Schauspielerin aufgegriffen und nacherzählt. Zahlreiche Anspielungen an Filme wie Akira Kurosawas Die sieben Samurai, Keisuke Kinoshitas Vierundzwanzig Augen oder Godzilla, unterstreichen die historische Betrachtungsweise und Wandlung im Laufe eines Jahrhunderts.

Gleichzeitig ermöglichen die verschiedenen Genres einen Blick auf die Geschichte Japans. Von der Heian-Zeit über den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Moderne und in die Zukunft, ist in Chiyokos Portfolio alles vertreten, so dass eine faszinierende Reise mit zahlreichen Wendungen und plötzlichen Schauplatzwechseln geboten wird. Da passiert es dann auch mal, dass die Schauspielerin mitsamt Genya und Kyoji, die durch das Interview direkt in die Erinnerungen der alten Frau gezogen zu werden scheinen, von einem Zug in einen Samurai-Krieg stolpern. Großartig inszeniert und fantastisch erzählt, versteht es Millennium Actress damit, Realität und Fiktion immer wieder zu verwischen.

Verschwommene Realität

Hier bleibt Saotshi Kon seinem Regiedebüt Perfect Blue treu. Wie in dem psychologischen Horror-Thriller, ist die Grenze zwischen Erinnerungen, Vergangenheit und Gegenwart nicht immer eindeutig. Chiyokos Erzählungen lassen uns direkt an ihrem bewegten Leben teilhaben. Allerdings ist dabei nicht immer sicher, was nun wirklich ein Erlebnis der Schauspielerin und was einer ihrer Filme ist. Regelmäßig geht beides direkt ineinander über. Realität wandelt sich zu Fiktion, um wieder zu Realität zu werden. Dabei wird auch aufgegriffen, wie unzuverlässig das Gedächtnis im Alter sein kann. Chiyoko selbst spricht an, dass sie sich nicht sicher sein kann, ob sie am nächsten Tag noch alles weiß, weshalb sie ihre Geschichte weitererzählen möchte. Etwas, das Satoshi Kon bereits im Drehbuch von Magnetic Rose für die Anthologie Memories angesprochen hat und für Millennium Actress erneut verwendet. Umso nachvollziehbarer ist es, dass Chiyokos Geschichte oft temporeich ausfällt. Nicht selten fühlt es sich so an, als renne sie durch ihre Erinnerungen, ihre Vergangenheit und von einem ihrer Filme zum Nächsten, stets auf der Suche nach jenem Maler, der ihr den Schlüssel hinterlassen hat und den sie unbedingt wiedersehen möchte. Hier zeigt sich dann auch das romantische Elemente des Films. Schließlich war Chiyokos Leben stets eng mit ihrer Suche verbunden und nicht selten sind es ihre darauf basierenden Taten, die die Geschichte in eine neue Richtung lenken.

Es ist wahrlich faszinierend zu erleben, mit welcher Entschlossenheit sie ihr Ziel zu erreichen versucht. Damit ist Millennium Actress auch – und das nicht zu einem geringen Teil – die Geschichte einer großen Liebe, die das Leben einer Frau bestimmt. Genau betrachtet ist diese Romanze sogar der Kern, auf den alles andere zurückgeht und der dazu führt, dass wir überhaupt mit Chiyoko die faszinierende Reise durch die fiktive, aber von der Realität inspirierte Geschichte des japanischen Kinos – und auch Anime – und damit auch die Historie Japans erleben dürfen. Satoshi Kon hat mit Milennium Actress ein zeitloses Anime-Meisterwerk erschaffen, das jedoch sicherlich nicht jedem gefallen wird. Wer sich aber auf die Geschichte einlässt, wird einen einmaligen, manchmal surrealen und perfekt inszenierten Film, der sich gleichermaßen einer Romantik-Handlung, japanischer Filmgeschichte und der Historie des Landes annimmt und alles hervorragend miteinander in Einklang bringt.

Unterstrichen wird Millennium Actress von auch heute noch schönen Bildern, Zeichnungen, Hintergründen und Charakterdesigns sowie flüssigen Animationen, die besonders in 4K zur Geltung kommen, aber auch auf Blu-ray restlos überzeugen. Verstärkt wird die stimmungsvolle Erzählung von der stets passenden Sound- und Musikkulisse sowie den erstklassigen deutschen Sprechern, die sämtlichen Figuren glaubhaft Leben einhauchen. Ein umfangreiches Booklet bietet zahlreiche Zusatzinformationen zur Entstehung von Millennium Actress und ist ein überaus lesenswertes Extra.

Fazit

Lediglich vier Filme und eine Serie konnte Regisseur, Autor und Zeichner Satoshi Kon vor seinem Tod 2010 im Alter von sechsundvierzig Jahren fertigstellen. Während ich Perfect Blue, Tokyo Godfathers, Paprika und Paranoia Agents bereits seit einiger Zeit kenne, hatte ich nie die Gelegenheit, mir Kons zweiten Film anzusehen. Dank der Neuveröffentlichung, unter anderem auf 4K-Blu-ray, hatte ich nun endlich die Gelegenheit, das vielschichtige Drama über die Geschichte einer gealterten Schauspielerin nachzuholen. Schnell hat mich der Film mitgerissen und besonders dank der faszinierenden Inszenierung nicht mehr losgelassen. Das Verschwimmen von Realität und Fiktion, die Einbindung von Interviewer Genya und Kameramann Kyoji in Chiyokos Erinnerungen und die nicht immer eindeutigen Grenzen zwischen den Filmen und dem Leben der Schauspielerin, verleihen Millennium Actress eine besondere Atmosphäre. Es ist einfach ein einzigartiges Erlebnis zugleich das bewegte Leben von Chiyoko kennenzulernen und dabei eine Reise durch die Geschichte des japanischen Kinos im zwanzigsten Jahrhundert und die Historie des Landes zu unternehmen. Satoshi Kon gelingt hier eine meisterhafte Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen, wodurch Millennium Actress auf eigene Art fesselt. Der Anime-Klassiker ist ein ungewöhnliches Erlebnis, das sicherlich nicht jeden ansprechen wird. Es lohnt sich aber, sich auf den Film einzulassen und sei es nur, um das unterschiedliche Schaffen von Regisseur Satoshi Kon kennenzulernen.

Kurzfazit: Faszinierendes Anime-Drama, das eine eng mit dem japanischen Kino verknüpfte, bewegende Lebensgeschichte erzählt und mit einzigartiger Inszenierung sowie Atmosphäre fesselt. Ein besonderer Genre-Klassiker!

Vielen Dank an Crunchyroll für die freundliche Bereitstellung eines Rezensionsexemplars von Millennium Actress!

Details
Titel: Millennnium Actress
Originaltitel: Sennen Joyū
Genre: Drama
Regie: Satoshi Kon
Studio: Madhouse Inc.
Produktionsjahr: 2001
Laufzeit: ca. 86 Minuten
Sprachen: Deutsch, Japanisch
Untertitel: Deutsch
Extras: 40-seitiges Booklet, Interview mit Taro Maki, Interview mit Masao Maruyama, Poster
Herkunftsland: Japan
Altersfreigabe: ab 6
Erscheinungstermin: 19. Mai 2022
Herstellerseite: Millennium Actress bei Kazé Anime

© 2001 Millennium Actress Production Committee | © 2022 Crunchyroll SA (German Version)